Seit mehreren Monaten häufen sich die Meldungen von heftigen Attacken durch Orca-Gruppen auf große und kleine Segelyachten vor der Atlantikküste von Frankreich, Spanien, Portugal und Marokko.
Eigentlich leben sie in friedlicher Koexistenz mit Menschen – die Schwertwale, auch Orcas genannt. Ihr glänzender Körper ist groß und schwarz-weiß, charakteristisch ist die bis zu zwei Meter große Rückenflosse. Diese fleischfressenden Meeressäuger leben als sozialorientierte Gruppe in allen Meeren der Erde.
Doch seit 2020 kommt es immer wieder zu dramatischen Zwischenfällen, insbesondere vor der spanischen und portugiesischen Atlantikküste, nahe der Straße von Gibraltar sowie vor der Bretagne und Marokkos Küste. Plötzlich tauchen kleine Gruppen von zwei bis acht Orcas auf, bedrängen die Segelyachten, stoppen sie gewaltsam, rammen und schubsen den Rumpf immer wieder mit kräftigen Schlägen hin und her. In der Regel haben es die Tiere aber auf die Ruderblätter der Yachten abgesehen: Mit gezielten Bissen zerstören sie das Ruder bis zur Manövrierunfähigkeit der Boote.
Betroffen von diesen bis zu einer Stunde andauernden Angriffen sind meist 8 bis 15 Meter lange Segelyachten. Aber auch Fischer und Crews von Motor- und längeren Segelyachten berichteten bereits von derartig massiven Attacken. Insgesamt registrierten Behörden und Polizei seit 2020 zwischen 400 und 500 Angriffe im westeuropäischen Seegebiet.
Die meisten Boote wurden an die Küste geschleppt und mussten oft kostspielig repariert werden. Drei Yachten sind bereits gesunken, wie zuletzt Anfang Mai 2023 eine Schweizer Yacht in der Nähe von Barbate an der spanischen Südküste. Die einzig positive Nachricht dabei: Alle Seglerinnen und Segler konnten rechtzeitig in Rettungsinseln oder auf zu Hilfe eilende Boote umsteigen – die dann nicht weiter angegriffen wurden.
„Diese Ereignisse“, sagt Rainer Tatenhorst, Leiter der DSV-Abteilung Fahrten- und Freizeitsegeln, „schockieren uns Seglerinnen und Segler zutiefst, machen Angst und werfen Fragen auf.“
Fragen, die schwer zu beantworten sind: Warum verhalten sich die als intelligent und sozial geltenden Orcas plötzlich so extrem? Und: Wie reagiere ich an Bord, wenn plötzlich Orcas auftauchen? Welche Abwehrmaßnahmen gibt es?
Spiel, Aggression, Krankheit: Die Spekulationen über Ursachen sind vielfältig
Je länger die Attacken andauern, umso mehr Vermutungen und Theorien über mögliche Auslöser für das Verhalten der Tiere tauchen auf. Da ist die Idee, die Orcas würden Rache nehmen für den durch ein Segelschiff verursachten Tod eines Familienmitglieds. Eine andere These spricht von gesteigertem Hunger durch die Überfischung der Meere und dem Bestreben, Konkurrenten im Wettstreit um Futter zu vertreiben. Debattiert wird auch eine gesteigerte Aggression, ausgelöst über Hirnerkrankungen durch abgelagerte Umweltgifte aus dem insbesondere westlich der Straße von Gibraltar stark verschmutzten Gewässern. Sogar die Farbe des Unterwasseranstrichs von Yachten wurde und wird als möglicher Auslöser ins Kalkül gezogen.
Auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich seit Jahren intensiv mit den Tieren beschäftigen, können die absonderlichen und bedrohlichen Aktionen der Schwertwale nicht gesichert erklären. Sie sprechen zumeist eher von „Interaktionen“ als von „Angriffen“, da sie nicht unbedingt von gezielten Attacken der Orcas auf Menschen ausgehen. „Wir stehen nicht auf ihrem Speiseplan“, erklärt Mark Simmonds, wissenschaftlicher Direktor der Meeresschutzorganisation „Oceancare“.
Dr. Renauld de Stephanis, Präsident der Walschutzorganisation CIRCE, untersucht seit Monaten intensiv das Orca-Verhalten speziell vor dem spanischen Küstenort Barbate. Er und sein Team folgen den Tieren, führen Experimente durch und erfassen ihre Wege. Erste Ergebnisse der Feldforschung weitab der Küstenlinie führten dazu, dass spanische Behörden und Ministerien zügig neue Verhaltensempfehlungen aussprachen: Unter anderem solle man bei Kontakt mit den Orcas motoren und mit Höchstgeschwindigkeit in flaches Gewässer fahren. Dass kurz nach diesem Hinweis Orcas dicht vor Küste von Faro in Portugal (2,5 Meter Wassertiefe) gesichtet wurden, trägt nicht zur Beruhigung von Seglerinnen und Seglern bei.
Motor an oder aus, Küstennähe ja oder nein – widersprüchliche Empfehlungen sorgen für Unsicherheit
„Es gibt inzwischen viele sich teilweise widersprechende Empfehlungen, wie sich Crews bei Sichtung oder Attacken von Orcas verhalten sollten“, so Rainer Tatenhorst, selbst erfahrener Fahrtensegler. Firecracker und Pinger kamen zum Einsatz, wenn auch in Teilen der Seegebiete verboten. Die Empfehlungen von verschiedensten Seiten schwanken zwischen „Motor und Instrumente wie Beleuchtung und Echolot abstellen“ bis zu „Motor an, rückwärtsfahren, fliehen“.
Mal half das eine, mal das andere – oder eben auch nicht. Eine Crew berichtete, dass die Tiere vom Boot abließen, als ein Schwarm Delfine auftauchte. Ein schwedisches Paar hatte säckeweise Sand an Bord und warf diese über dem Ruderblatt ins Wasser. Nach einer Weile verzogen sich Orcas. Andere Crews hatten mit dieser Methode weniger Erfolg.
„Doch all diese möglichen Maßnahmen garantieren keinen Ausweg aus der akut bedrohlichen Situation auf dem Wasser“, resümiert Rainer Tatenhorst. Und grundsätzlich nur in Küstennähe zu segeln, könne zu Problemen mit Fischern und ihren ausgelegten Netzen führen. Noch, so Tatenhorst, „befinden wir uns quasi alle in einer groß angelegten Studie zur Lösung dieses Problems“.
Fazit: Informiert bleiben und das gesamte Gebiet meiden
Grundsätzlich empfiehlt der DSV seinen Seglerinnen und Seglern bis auf Weiteres: Kalkulieren Sie Ihr persönliches Risiko sehr genau. Wenn aufgrund der Bootsgröße möglich, erwägen Sie eine Fahrt über Flüsse und Kanäle ans Mittelmeer oder holen Sie alternativ Angebote für einen Transport per Spezialschiff oder Tieflader ein. Wer trotzdem in das Gebiet möchte, bereits vor Ort ist oder sein Schiff dort im Hafen liegen hat, sollte sich mit dem Orca-Thema intensiv auseinandersetzen. Dazu gehört eine tagesaktuelle Abfrage zum Aufenthaltsort und den Zugbahnen der Orcas. So können beispielsweise die Fressgebiete der Tiere umfahren werden.
Diese Informationen erhalten Sie unter anderem über die Webseite www.orcas.pt. Der Kommunikationsweg läuft über den Messenger-Dienst Telegram. Um zu den entsprechenden Gruppen zu gelangen, registrieren Sie sich ebenfalls über www.orcas.pt. Dort finden Sie auch Karten zu den Orca-Bewegungen und Attacken.
Rainer Tatenhorst weiter: „Auch wir beobachten die Situation sehr genau, werten die zur Verfügung stehenden Daten und wissenschaftlichen Erkenntnisse gründlich aus und informieren regelmäßig über unsere Webseite www.kreuzer-abteilung.org und die DSV-App“.
Weitere Information erhalten Sie in einem Artikel von Trans-Ocean, der auch auf weitere private Organisationen und wissenschaftliche Institutionen verweist, die umfassend über die tagesaktuelle Lage und die Entwicklung der Gesamtsituation berichten: https://www.trans-ocean.org/Bericht-lesen/ArticleId/6790/Neue-Empfehlungen-f-252-r-die-Orca-Gebiete